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Weiter geht es mit den siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn. Das eine Kapitel über das kindliche Lernen übergehe ich. Ich (und meine Kinder) bin aus dem Alter raus.

Die nächste Lektion lautet: Ihr Gehirn sagt vorher, was sie tun.

Ich erinnere mich an einen Artikel, der über diese Erkenntnis berichtete und was das für Konsequenzen beispielsweise für die Schuldfähigkeit haben könnte. Zum Glück hat diese Tatsache kaum jemanden interessiert und niemand hat die grundsätzlche Schuldfähigkeit des Menschen in Frage gestellt.

Während Ihr Gehirn Vorhersagen trifft, überprüft es sie anhand der Sinnesdaten, die es aus der Außenwelt beziehungsweise aus dem Körper bekommt. Was jedoch als Nächstes passiert, verblüfft mich immer noch, selbst als Neurowissenschaftlerin. Falls Ihr Gehirn eine gute Vorhersage getroffen hat, feuern Ihre Neuronen bereits in einem Aktivitätsmuster, das zu den eintreffenden Sinnesdaten passt. Was bedeutet, dass die Sinnesdaten keinen anderen Nutzen haben, als die Vorhersage Ihres Gehirns zu bestätigen. Was Sie in der Welt sehen, hören, riechen und schmecken und was Sie in diesem Moment in Ihrem Körper empfinden, ist in vollem Umfang ein Konstrukt in Ihrem Kopf. Durch seine Vorhersage hat Sie Ihr Gehirn schon aufs Handeln vorbereitet.

Lisa Feldman Barrett, Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn

Mit anderen Worten: Wir erkennen, was wir tun. Das, was wir als Besonnenheit oder Geist oder Bewusstsein oder wie immer wir diesen Zustand nennen wollen, wahrnehmen, ist das, was wir alltäglich unter „Denken“ verstehen. Das ist zu wenig. Darunter liegt ein ganzes Meer komplexer Denkvorgänge, die bereits alles Notwendige in Gang gesetzt haben. Das sind unsere sinngebenden, lebenserhaltenden Vorgänge, individuell und im Austausch mit anderen. Unser „bewusster Moment“ ist manchmal also auch dafür da, unserem Gehirn alternative Vorhersagemöglichkeiten zu bieten.

In Ihrer Kindheit kreierten Ihre Bezugspersonen die Umwelt, die für die Verschaltung Ihres Gehirns sorgte. Ihre Bezugspersonen haben Ihre Nische geschaffen, Sie selbst haben sich diese Nische nicht selbst ausgesucht – Sie waren ja noch ein Baby. Also sind Sie nicht verantwortlich für die frühkindliche Verschaltung Ihres Gehirns. Wenn Sie mit Menschen groß wurden, die einander sehr ähnlich waren, ähnliche Kleidung trugen, ähnliche Überzeugungen hatten, den gleichen Glauben teilten oder einander in Hautfarbe oder Gestalt stark ähnelten, dann haben diese Ähnlichkeiten das Bild vom Menschen bestimmt, das Ihr Gehirn erwartet und aufgrund dessen es seine Vorhersagen trifft.

Ihrem sich entwickelnden Gehirn wurde eine bestimmte Bahn vorgezeichnet.

Aber wenn Sie erwachsen sind, ist das anders. Sie können mit den unterschiedlichsten Menschen Kontakt schließen. Sie können die Überzeugungen, die man Ihnen als Kind mitgegeben hat, ändern. Sie können Ihre Nische neu einrichten.

Ihre Handlungen werden zu den künftigen Vorhersagen Ihres Gehirns, und diese wiederum beeinflussen Ihre künftigen Aktivitäten. Sie haben also durchaus die Freiheit, Ihre Vorhersagen neu und anders auszurichten.

Nicht jeder Mensch kann sich zu 100 Prozent aussuchen, was er verbessern kann, aber jeder Mensch kann sich zumindest ansatzweise dafür entscheiden, etwas anders zu machen als bisher.

Lisa Feldman Barrett, Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn

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